Klinik für Lungenkranke: Kinder wurden misshandelt
Von Inga Sprünken
Die Klinik Aprath hat wie viele Lost Places einen ganz besonderen Reiz. Solche Plätze, die irgendwann sich selbst überlassen wurden, sind schaurig-schön. Manchmal erzählen sie eine faszinierende Geschichte, sie wirken geheimnisvoll oder einfach nur traurig. Aber sie ziehen uns in ihren Bann, denn sie sind mehr als nur Ruinen, sondern Zeugen einer Vergangenheit, die sie uns für einen kurzen Moment enthüllen. Diese Momente in Worte zu fassen, gelingt am besten, wenn man etwas über die Geschichte dieser Orte herausfindet.
So sieht es auch für die Lungenheilanstalt Aprath aus. Noch auf Wuppertaler Stadtgebiet gelegen, befindet sich der kleine Weiler Aprath direkt an der Grenze zu Wülfrath. Bekannt wurde der Ort durch die im Jahr 1913 eröffnete Lungenklinik, deren Reste sich noch heute in einem abgelegenen Waldgebiet finden. Für die Klinik gab es sogar eine eigene Bushaltestelle, die heute ebenfalls ein Lost Place ist – und der einzige Hinweis auf die Ruine. Denn die verfallenen Gebäude und ihre Zufahrten sind zugewachsen und unzugänglich. Und das ist so gewollt.
Kinder mussten Erbrochenes essen
Wer sich durchs Gebüsch schlägt und auf die Ruine stößt, den gruselt es. So düster, wie sie aussieht, so düster ist auch ihre Vergangenheit. Denn in der sogenannten Lungenheilanstalt wurden in den 1950er und 60er Jahren junge Patienten für medizinische Versuche missbraucht. Viele Kinder waren hier, um gegen Tuberkulose behandelt zu werden. Doch sie erlebten körperliche und seelische Gewalt und Demütigungen.
Die einstige Vorzeigeanstalt Aprath steht seit 2006 leer. Zuletzt war sie ein Seniorenheim. Die Kinder, die dort einst untergebracht waren, berichteten von Einsamkeit und Isolation, die wohl in allen Kliniken dieser Art herrschten. Die Sitten in den Nachkriegsjahren waren streng. Kinder wurden dazu gezwungen, das zu essen, was auf den Tisch kam. Wer es erbrach, musste es selbst wieder wegwischen oder aber tatsächlich wieder essen.
Contergan an Kindern getestet
Die Nachkriegskinder waren oftmals mager und hatten Lungenkrankheiten. Tuberkulose galt als die gefährlichste unter ihnen. Ein gängiges Mittel dagegen waren Liegekuren. In der Lungenheilanstalt Aprath mussten die Kinder stundenlang still liegen. Es gab dafür spezielle Liebe-Hallen oder Liege-Balkone, auf denen heute Baumsprösslinge wachsen. Vollgestopft mit Medikamenten ließen die jungen Patienten dies über sich ergehen. Manchmal wurden sie aber auch auf den Liegen festgebunden – und sie wurden sediert.
Es gibt Dokumente, die beweisen, dass in der Klinik Wirkstoffe getestet wurden, die noch gar nicht zugelassen waren. Dazu gehörte etwa das später als Contergan bekannt gewordene Schlafmittel der Firma Grünenthal. Diese bestätigte die Lieferungen nach Aprath in einem Schreiben, in dem sie gleichzeitig ihr Bedauern darüber ausdrückte. Auch Kombinationen aus Streptomycin und Pantothensäure zur Tuberkulose-Behandlung wurden an Kindern getestet. Solche Tests wurden damals als normal betrachtet. Schließlich gehörte das zur Forschung bei schweren Krankheiten wie Tuberkulose. Davon wussten die Eltern nichts.
Aufenthalte wurden von Hausärzten verschrieben
Hausärzte verschrieben solche Klinikaufenthalte und Eltern folgten den Empfehlungen, weil sie nur das Beste für ihre Kinder wollten. Auch in den Schulen wurden Tuberkulosetests durchgeführt. Den Schülern wurde dazu nach den Erzählungen einst Betroffener ein Pflaster auf die Brust geklebt. Kam es darunter zu einer Rötung, soll dies ein Indiz für eine Infektion gewesen sein.
Die im Jahr 1913 mit hundert Betten eröffnete Lungenklinik Aprath versprach Heilung. Schnell nahm das Haus Kinder auf, so dass sich eine Kinderheilanstalt entwickelte. 1927 wurde ein zweites Haus für Jugendliche mit besonders ansteckender Tuberkulose eröffnet. 1930 kamen das Kinderpavillon und das Infektionshaus hinzu. 1936 entstanden Krankenhallen und ein Schulgebäude.
Klinik steht vor Insolvenz
Nach Zerstörungen durch Bombenangriffe im Jahr 1945 erbaute man ein Schwesternwohnheim und ein modernes Labor. Die Klinik wurde zu einem pneumologischen Fachkrankenhaus ausgebaut. 1978 kam die Umwandlung in ein Seniorenpflegeheim für schwere und schwerste Pflege. Im Jahr 2002 stand die Klinik allerdings vor der Insolvenz – bis ein ein niederländischer Investor 3,7 Millionen Euro in die Rettung des Hauses investierte.
Doch das nutzte langfristig nichts. Am 26. April 2006 kam die endgültige Insolvenz. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch 55 Bewohner in der Klinik Aprath. Kurioserweise waren Teile des investierten Geldes verschwunden und in private Investitionen geflossen. Der Ex-Vorstand der Institution wurde wegen Betruges und Untreue verurteilt.
Pläne zur Wiederöffnung der Klinik
Ab 2009 gab es Pläne zur Wiedereröffnung der Klinik Aprath. Mit einem Investitionsvolumen von 70 Millionen Euro sollte das Areal in eine Privatklinik mit 5-Sterne-Hotel, Hallenbad und Hubschrauberlandeplatz umgebaut werden. Die Pläne wurden vom damaligen Eigentümer, der Unterdüssel Gmbh, bestätigt. Doch es tat sich nichts.
So erhielten Studenten die Erlaubnis, im Jahr 2012 den Horror-Kurzfilm „Blutdruck“ in den Räumen der ehemaligen Klinik Aprath zu drehen. Der Film wurde zwar erst 2018 auf Youtube veröffentlicht, jedoch hatte die Presse von den Dreharbeiten berichtet. Und das hatte fatale Folgen. Nun wussten viele vom Leerstand der einst hochangesehenen Klinik. Das führte zum endgültigen Niedergang der nun als „Horror-Klinik“ bezeichneten Gebäude.
Abrissgenehmigung für die Klinik
Diebe und Vandalen tobten sich in den leerstehenden Räumen aus. Innerhalb kürzester Zeit war alles verwüstet und sämtliche Metallgegenstände einschließlich Elektroleitungen gestohlen. Ein Brand in 2014 gab den Häusern den Rest. Seit 2012 gibt es eine Abrissgenehmigung für die ehemalige Lungenheilanstalt Aprath. Die Kosten werden auf 1,6 Millionen Euro geschätzt.
Trotzdem riss die Suche nach Investoren nicht ab. Heute ist das Klinik-Gelände nicht nur völlig zugewachsen und herunter gekommen, sondern auch kameraüberwacht. Sämtliche Zugänge sind zugemauert, ebenso die Fenster. Zuletzt wurden im Jahr 2020 Pläne für den Bau einer Forensischen Klinik diskutiert. Seither wächst ein Urwald rund um und auf den Balkonen der Klinikgebäude heran.
Kinder auch in Bonner Klinik misshandelt
Ein Forschungsprojekt des Landes Nordrhein-Westfalen untersucht die damals moderne Verschickung von Kindern in Jugend- und Erholungsheime und hat nicht nur die einstigen Zustände in Aprath an den Tag gebracht. Auch in anderen Kliniken ging es nicht so zu, wie man es eigentlich hätte erwarten können. Dazu gehörten zwei Häuser in Nordrhein-Westfalen.
In Bonn-Oberkassel sollen an zwei Standorten gruselige Zustände geherrscht haben: im Kindersanatorium Haus Ebton und dem Kindersanatorium Haus Bernward (Villa Clemens August) wurden nach einigen Jahren die Konzessionen entzogen. Insbesondere Letzteres war in Verruf geraten. Drill und Einschüchterung sollen hier an der Tagesordnung gewesen sein. Die kleinen Patienten sollen auch hier mit Sedativa ruhiggestellt worden sein.
Schlimme Zustände in der Klinik
Verantwortlich für das Leid der Kinder soll in erster Linie der Kinderfacharzt Dr. med. Otto Heinrich Müller gewesen sein. Er hatte 1960 die Genehmigung zum Betrieb einer privaten Kinderkrankenanstalt erhalten und dafür ein Kurheim in der Bernwardstraße 25 gepachtet. Es war von einem Arzt in den 1930er Jahren gegründet worden. Bis zur Schließung des Heims im Jahr 1976 war Müller Pächter und leitender Arzt von Haus Bernward.
Das prachtvolle Anwesen, das heute von einem Finanzdienstleister genutzt wird, liegt unzugänglich hinter einem schmiedeeisernen idyllisch direkt am Rhein in einem großen Parkgelände mit altem Baumbestand und Ausblick auf das Siebengebirge. Etwa 60 Jungen und Mädchen im Alter von vier bis 13 Jahren konnten hier für bis zu sechs Wochen untergebracht werden. Dazu gehörten Kinder mit Untergewicht, Asthma, Herz-Kreislaufkrankheiten und „neurotischen Fehlhaltungen“ wie das Bettnässen genannt wurde. Zugewiesen wurden sie Kinder vom Landschaftsverband Rheinland.
Kinder erhielten Spritzen in den Rücken
Doch so schön die Beschreibung auch klingt, viele machten hier traumatische Erfahrungen. Die Kinder sollen von Müller und seinem Team geschlagen, erniedrigt und mit dubiosen Behandlungen gequält worden sein. Das blieb lange Jahre unentdeckt. Im Oktober 1974 gab es indes die ersten Hinweise. Das Landesjugendamt war vom Deutschen Kinderschutzbund auf Vorgänge im Haus Bernward hingewiesen worden.
Diese gründeten sich auf einen Brief mit Aussagen einer ehemaligen Angestellten des Hauses. Demnach verabreichte der Leitende Arzt den Kindern mehrmals am Tag Spritzen in den Rücken, die sie beruhigen oder aber das Bettnässen verhindern sollten. „Ein Kind wurde derart massiv damit behandelt, dass es weder schlucken noch reden konnte. Bei einem Jungen sind nach einer Spritze, die das Rückenmark getroffen hatte, heftige Krampfanfälle aufgetreten“, hieß es im Schreiben.
Die Sedierung war an der Tagesordnung
Zu einem Vorfall, bei dem ein aufgebrachter Junge mit Spritzen zur Ruhe gebracht werden sollte, sind Müllers Worte überliefert: „Sedieren, sedieren, bis er im Stehen einschläft!“ Viele Kinder sollen oft morgens und nach dem Mittagsschlaf kaum zu sich gekommen und umhergetorkelt sein.
Mit diesen Anschuldigungen konfrontierten die Vertreter des Landesjugendamtes bei einem Routinebesuch im Jahr 1974 den leitenden Arzt. Der tat jedoch die Behauptungen als böswillige Verleumdungen einer gekündigten Mitarbeiterin ab und die Behörden glaubten ihm. Sie bescheinigtem Haus Bernward einen „sauberen und gepflegten Eindruck“ und einwandfreie hygienische Verhältnisse. Sie sahen keine Veranlassung zu Beanstandungen.
Die Beschwerden rissen nicht ab
Doch die Beschwerden von Nachbarn und Eltern rissen nicht ab. Es gab weitere Kontrollbesuche – bis im Jahr 1976 „katastrophale Zustände“ dokumentiert wurden. Dazu gehörten schwere Misshandlungen der Kinder durch Mitarbeiter, medizinisch unsachgemäße Behandlung mit Anästhetika, unzureichende psychotherapeutische Maßnahmen, fehlendes Fachpersonal, unzureichend geführte Krankenpapiere und schlechte räumliche und hygienische Verhältnisse.
So entzog der Regierungspräsident Köln im August 1976 dem Betreiber die Konzession. Müller musste das Kindersanatorium zum 11. August 1976 schließen. In der Begründung hieß es, der Arzt habe „jahrelang eine mit dem Moment der Angst operierende Therapieform angewandt“. Er verfüge offenbar nicht über die erforderlichen Fachkenntnisse.
Die Klinik wurde geschlossen
Haus Ebton unweit von Haus Bernward war bereit 1958 geschlossen worden. Der Landschaftsverband Rheinland erwarb das im Jahr 1907 erbaute Landhaus des Kölner Fabrikanten Julius Vorster und eröffnete dort 1959 das „Rheinische Landeskurheim für Sprachgeschädigte“.
Wie Haus Bernward liegt die Villa in einem englischen Park mit zum Teil exotischem Baumbestand. Seit 1992 steht das Landhaus im Eigentum der Itzel-Gesellschaft. Auf einem Messingschild am Eingang steht „Behütendes Haus des Collegium Augustinum für dementiell erkrankte ältere Menschen“. Für die einst Betroffenen, die Traumata davon getragen haben, gibt es eine Selbsthilfegruppe Kinderlandverschickung NRW. Ein spannendes Hörbuch zu diesem Thema findet man bei Audible.
Noch mehr spannende Lost Places gibt es in Bad Honnef und Remagen.