Die Göttin und ein geheimnisvoller Ort in der Eifel
Die Nacht auf den 6. Januar ist eine besondere Nacht. Es ist die Nacht einer uralten Göttin mit Namen „Holla“. Dieser ist in der Eifel bei Nettersheim ein mystischer Kultplatz gewidmet. Für keltisch-germanische Stämme war die Göttin Erd- und Himmelsgöttin, Göttin der Jahreszeiten, Schutz-und Heilungsgöttin sowie Muttergöttin. In den Holla-Mythen ist die Rede von Flügen durch die Luft, die sie in den Rauhnächten zwischen der Wintersonnenwende und dem 6. Januar, dem „Hoch-Neujahr“, unternimmt.
In den Rauhnächten segnet sie die Erde, damit sie Früchte trage im neuen Jahr. Im Frühjahr schließt Holla ihr unterirdisches Reich auf und lässt ihre Priesterinnen (die Saligen) in Form von Katzen in die Menschenwelt ziehen. Im Herbst sammelt sie die Seelen der in dem Jahr verstorbenen Menschen, Tier und Pflanzen ein, um sie zurück in ihr unterirdisches Reich zu überführen. Die Gebrüder Grimm haben den alten Volksglauben an die Ur-Mutter der Erde als Vorlage für ihre Geschichte „Frau Holle“ genommen:
Die Göttin als Frau Holle
Einst hatte eine Witwe zwei Töchter. Eine war schön und fleißig, die andere hässlich und faul. Diese aber hatte sie viel lieber, weil sie ihre rechte Tochter war. So musste die andere alle Arbeit tun und war das Aschenputtel im Hause. Sie musste am Brunnen sitzen und spinnen bis ihre Finger blutig waren, während die andere sich ein schönes Leben im Haus machte. Eines Tages fiel dem armen Mädchen beim Säubern die blutige Spule in den Brunnen. Die Stiefmutter schalt sie und sagte, sie solle in den Brunnen springen und sie wieder heraus holen.
Das Mädchen sprang hinab und erwachte auf einer Wiese. Dort zog sie ein längst ausgebackenes Brot aus einem Ofen, weil es im Ofen schrie und darum bat. Ein Apfelbaum bat sie, die reifen Äpfel herab zu schütteln. Auch das tat das fleißige Mädchen und kam so zu einer uralten Frau mit großen Zähnen. Sie erschreckte sich, doch die Alte war freundlich und sprach zu ihr, sie solle sich nicht fürchten und ihr von nun an zu Diensten sein. Sie trug dem Mädchen auf, fleißig die Betten zu schütteln, so dass die Federn nur so hinausflögen. Dann schneie es auf der Welt, sagte die Alte, die keine andere war als Frau Holle.
Frau Holle und das Mädchen
Obwohl es ihr gut bei der Alten ging, wollte das Mädchen wieder zurück nach Hause, weil es Heimweh hatte. Frau Holle führte sie durch ein Tor, wo Gold auf sie fiel. Sie gab ihr die Spule wieder und das Mädchen kehrte als Gold-Marie zurück zu Mutter und Schwester. Dort erzählte sie, was ihr geschehen war. Die Mutter wollte, dass auch die andere Tochter ein solches Glück haben sollte und hieß sie, in den Brunnen zu springen. Auch sie landete auf der Wiese.
Doch dort kam sie weder den Bitten des Brotes noch des Apfelbaumes nach und schüttelte auch die Betten der Alten nicht ordentlich aus. Als das faule Mädchen Frau Holle bat, sie zurückzubringen, führte diese sie zum selben Tor wie die Fleißige. Doch statt Gold fiel Pech auf sie herab. Als Pech-Marie musste sie ihr ganzes restliches Leben damit verbringen.
Das Heiligtum der Göttin
Die Verehrung einer Muttergöttin (Matronae), die die Natur repräsentiert, ist uralt, so alt wie das geheimnisvolle Heiligtum auf dem Hügel oberhalb des Urftales bei Nettersheim. Dort finden sich drei quadratische Mauerreste, die mit Blumen und Kränzen geschmückt sind. Während im Inneren dieser Mauernreste verbrannte Erde auf eine Feuerstätte schließen lässt, sind die äußeren Mauern von Gedenksteinen umgeben.
Auf diesen finden sich die Darstellungen dreier Frauen mit seltsamen Kopfbedeckungen. Das ist die dreigestaltige Göttin Holla als Jungfrau, Fruchtbare und weise Alte, womit sie den Frühling, Sommer und Herbst/Winter repräsentiert. Diese drei Göttinnen werden auch Ambeth, Wilbeth und Borbeth genannt und bilden als Triade die Erd-, Mond- und Sonnenmutter. Der Kult um die drei Frauen, die durch die Lande ziehen und die Häuser segnen, hielt sich im Süddeutschen bis in die Neuzeit.
Ein Segen der Göttin
Der Anfangsbuchstabe dieser drei Göttinnen, A W B wurde einst mit Kreide an die Haus- und Stalltüren gemalt, um um Segen und Schutz für Menschen und Tiere zu bitten. Im Oberbayrischen zogen die als „Berchten“ bezeichneten Frauen am 6. Januar durch die Dörfer. Dieser Bethen-Kult, der sich auf die Namen der drei Frauen bezieht, wurde später von der christlichen Kirche umgewandelt zu den Heiligen Drei Königen.
Die Heiligen Drei Könige ziehen heute als verkleidete Kinder durch die Orte und schreiben, wie in alter Zeit, mit Kreide die Anfangsbuchstaben der Heiligen, C für Kaspar, M für Melchior und B für Balthasar, an die Türstürze. Dieser Heilige-Drei-Könige-Brauch ist seit Anfang des 16. Jahrhunderts üblich. Die genannten Buchstaben stehen auch für Christus Mansionem Benedicat (Christus segne dieses Haus).
Rituale am uralten Tempel
Der geheimnisvolle Kultplatz in der Eifel mit einem Erdaltar in der Mitte war in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts nur mit einem Holzzaun umfriedet, wie Wissenschaftler herausfanden. In der Mitte des zweiten Jahrhunderts wurde ein Tempel errichtet, dessen Reste die Einwohner von Nettersheim bis heute als „Görresburg“ bezeichnen. Es handelt sich um die Reste eines gallorömischen Tempelbezirks, der noch bis Anfang des fünften Jahrhunderts genutzt wurde.
Eine Umfassungsmauer umschloss die uralte Kultstätte, die aus drei separaten kleinen Bauten bestand. Auch außerhalb dieser Mauer wurden Gebäudereste gefunden. Und noch heute tut sich an diesem besonderen Kraftort einiges. Wie sich unschwer erkennen lässt, werden hier Rituale abgehalten. Davon zeugen Opfergaben wie Obst, Blumengebinde oder Feldfrüchte vor den Weihesteinen der heiligen Matronen.
Die Energie ist bis heute zu spüren
Die Tempelanlage lag einst in direkter Nähe zu der römischen Kleinsiedlung Macromagus. Der Name findet sich noch heute in dem Ortsnamen des benachbarten Marmagen wieder. Die Bezeichnung „Görresburg“ wiederum geht auf die alte Flurbezeichnung der Fundstätte zurück, die aus der Zeit vor der Entdeckung des gallorömischen Matronenheiligtums im Jahr 1919 stammt.
Dieses zählt zu den bedeutenden Funden in der römischen Provinz Germania. Mehr als 40 Matronendenkmäler und Weihesteine wurden hier insgesamt ausgegraben, was auf eine intensive Benutzung der Kultstätte schließen lässt. Die Originale finden sich im Rheinischen Landesmuseum. Die Energie, die dieser geheimnisumwobene Ort ausstrahlt, ist noch wahrzunehmen. Dazu sollte man sich still in die Mitte der Kultstätte stellen.
Die Verehrung der Göttin
In den Jahren 1976 und 1977 wurde die Kultstätte teilrekonstruiert. Das Heiligtum am nördlichen Teil der einstigen Siedlung an der Agrippastraße und ist heute Teil des Archäologischen Landschaftsparks in der Urftaue. In dieser mystisch anmutenden Landschaft finden sich weitere Mauerreste der Römer. Die einstige Siedlung Macromagus wird durch einen 4,5 Kilometer langen Rundweg erschlossen.
Unmittelbar südlich der Tempelanlage standen Wohn- und Geschäftshäuser. In den sogenannten „Streifenhäusern“ auf der „Alten Gasse“ wurde gelebt und gearbeitet. Archäologen haben hier ein römisches Handwerkerhaus ausgegraben, das mindestens 250 Jahre lang als Werkstatt genutzt wurde. Zusammen mit allen anderen Häusern der Siedlung wurde es während einer Unruhe in der römischen Provinz in Folge des Frankeneinfalls um 275 niedergebrannt. Danach errichteten die Römer im dritten Jahrhundert am Ufer der Urft ein Kastell, das heute ebenfalls rekonstruiert ist.
Ein Kraftort für Geburt und Tod
Feinfühlige bemerken die Energie des Kraftortes an der einstigen Kultstätte der Göttin, die als Schicksalsgöttin die Lebensfäden spinnt und abschneidet. In der jungsteinzeitlichen matriachalen Kultur galten Spinnen und Weben als magische Kunst, mit der Holla/Frau Holle die Jahreszeiten entstehen ließ. Bis ins 18. und 19. Jahrhundert war ihre Göttinnengestalt noch im Volksglauben lebendig. Das einfache Volk feierte acht Mysterienfeste für Geburt, Liebe, Tod und Wiedergeburt.
Die Symbolik des Jahres– und Lebenskreislaufes findet sich im Mythenschatz der Frau Holle wieder. Das gilt besonders für die Rauhnächte, die heute wieder an Bedeutung gewonnen haben. In vielen vorchristlichen Kulturen gab es auch die Vorstellung, dass ein Lebensbaum Himmel, Erde und Unterwelt miteinander verbindet und an seinen Wurzeln Schicksalsgöttinnen wie Frau Holle wirken. Auch der Berg oberhalb des Urfttales, auf dem sich die Tempelanlage befindet, bildet das dreistöckige Weltbild mit den Zonen Himmel, Erde, Unterwelt ab.
Das alte Weltbild und die Göttin
Holla ist die Wettermacherin, die Fruchtbarkeit schenkende Frau und Mutter des Lebens und die Erdgöttin. Sie wohnt in Bergen, Höhlen, Brunnen, Seen und tiefen Wäldern, wo sie in der Tiefe die toten Seelen bewacht. Gleichzeitig hütet sie als Unterwelt-Göttin altes Wissen und praktische Künste. Sie kann hilfreich und segensbringend, aber auch zerstörerisch und strafend sein. Ihr Baum ist der Hollerbusch (Holunder), der niemals vernichtet werden darf. Diese Urmutter repräsentiert in all ihren Erscheinungsformen und Namen den Reichtum vergangener Kulturen und deren Jahreszyklus.
Christliche Feste erinnern an die alten heidnischen Feste, die so tief und unauslöschlich im Volk verwurzelt waren, dass sie mit neuen Namen bedacht wurden. Das ist Samhain (Beginn des Winters/Neujahr der Hexen) am 1. November heute Allerheiligen oder Halloween, Yule (Wintersonnenwende/Die Geburt des Lichts) am 21. Dezember, heute Weihnachten. Imbolc ist der zweite Vollmond nach Yule und wird am 2. Februar Maria Lichtmess gefeiert. Ostara ist die Frühjahrstagundnachtgleiche am 21. März, die Christen feiern in dieser Zeit Ostern. Beltane am 1. Mai steht für den Beginn des Sommerhalbjahres und wird als Maifest oder Walpurgisnacht begangen. Litha ist die Sommersonnenwende oder, im Christlichen, Johanni am 21. Juni, Lughnasad/Lammas (8. Vollmond nach Yule) am 1. August wurde zu Maria Himmelfahrt. Mabon ist der Name der Herbsttagundnachtgleiche und des christlichen Erntedankfestes am 23. September.
Das Fest der Heiligen Drei Könige
Hinzu kommen die zwölf Rauhnächte, die Zeit „zwischen den Jahren“ vom 24. Dezember bis 6. Januar. Die Nacht davor ist die Perchten-Nacht oder die Nacht der Wunder. Das Wort Percht leitet sich ab von Perath, das für leuchtend und strahlend im Althochdeutschen stand. Dieses Leuchten beendet die Zeit der Dunkelheit und des Todes. In Österreich und der Schweiz wird in dieser Nacht die „Sampermilli“ oder „Perchtmilch“ bereitgestellt. Von dieser sollen alle Hausbewohner einschließlich der Tiere trinken, weil dies Fruchtbarkeit und Segen für das ganze Jahr bringt. Das Haus soll in dieser Nacht mit Weihrauch oder Salbei geräuchert werden, um die alten Geister zu vertreiben.
In der Nacht zum 6. Januar gehen auch die „Saligen“ um. Diese drei wilden Frauen werden im Süddeutschen als Begleiter der alten Göttin angesehen. Wer sie bekehren wollte, dem erging es übel. So nannte man sie in Kärnten auch die „Haidnischen“. Als zauberhafte Wesen waren sie den Menschen wohl gesonnen, solange diese ihre Regeln beachteten. Eine davon besagt, dass keiner Gämse in dieser Nacht etwas zuleide getan werden darf. Ein Jäger, der sich nicht daran hielt, wurde verschüttet. Noch heute sind im Ötztal die Schutthalden dieser Untat zu sehen, wie es in der Legende heißt.
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