Flutopfer durch digitalen Glauben?

Hochchwasser

Ich, Ambrosius Unbeugsam (Ass. jur., Richter a.D., Stadtrechtsdirektor a.D., Erster Beigeordneter a.D., Bürgermeister a.D. und homo sapiens im Dienst) mag alle Sprachen dieser Welt. Wie „Am Anfang war das Feuer“ sind sie das, was uns kennzeichnet und prägt. Ich mag besonders aber die deutsche Sprache. Ja, sie ist schwerer zu singen als romanische Sprachen. Aber sie hat eine subtile und zugleich messerscharfe Bedeutungslyrik, wie uns Goethe, Schiller oder auch die Band Rammstein zeigen. Und sie wird verwendet, um uns zu zeigen, was wir denken sollen. Anlass für diese Kolumne ist die genaue Beobachtung der Verwendung des Wortes besonders im politisch-medialen Gebrauch – auch unter Beachtung der psychologischen Erkenntnis:

Es ist mehr als das Wort, was das Stammhirn (hier sitzen die uralten Emotionen) erreicht!

Kolumne 01.23 – BEIM WORT GENOMMEN: Das digitale Zeitalter

Es ist in aller Munde. Es wird ausgerufen fast wie eine Religion. Selbstverständlich ist ein „Zeitalter“ schlichtweg nicht aufzuhalten oder zu modifizieren. Ganz besonders, wenn es „digital“ ist. Menschen laufen, in elektronische Geräte vertieft wie weiland Menschen in eine Bibel, durch die Gegend. Sie sind durch Kopfhörer ständig damit verknüpft. Die „virtuelle Realität“ wird gepriesen. „Künstliche Intelligenz“ soll Einzug halten an den Schulen. Ja fällt denn keinem auf, das dies dem Wortsinn nach und real etwas ist, was sich gegeneinander schon begrifflich ausschließt? Was soll damit in der öffentlichen Wahrnehmung „glattgebügelt“ werden? Kann es sein, dass viele, die hinter dieser „Religion“ stecken, nur das Beste von Ihnen wollen? Ihr Geld?

Das digitale Zeitalter. (Foto: Inga Sprünken)

Das alles wäre ja im „Entertainment-Bereich“ noch harmlos. Aber in Wahrheit durchzieht die Digitalisierung auch existentielle Dinge. Wir glauben (oder sollen glauben), dass die Digitalisierung uns verlässlich in ein ungeahnt sicheres und bequemes Zeitalter bringt. Aber bei genauer Betrachtung erinnert einiges an Jethro Tulls Song „Locomotive breath“ aus 1971 (!) – mit dem Zug, in dem jemand den Bremshebel gestohlen hat und der deswegen ungebremst auf den Abgrund zurollt. Mit dem Fazit: No way to slow down!

Zeit sich „digital“ mal genauer anzusehen

Digital bezeichnet ein elektrisches Verfahren, dass Dateien in (nur!) zwei Zuständen erzeugt: Positiv (Strom liegt an) = 1 und nicht positiv (kein Strom liegt an) = 0. Das war´s, ganz einfach. Selbst ein high-tech-Prozessor macht nichts anderes. Er kennt nur 1 oder 0 in unendlichen Ketten.

Aber ist das verlässlich? Ist die Realität nur 1 oder 0, schwarz oder weiß? Macht die Menge und Schnelligkeit der Datendarstellung den Eindruck der Realität wahrer? Ist Datenmenge ein Gütemerkmal? Ist „Qualität“ nicht immer ein Mehrfaktorenansatz? Wissen wir wirklich, ob eine Software durch den, der sie machte und verkauft, alle relevanten Faktoren berücksichtigt? Mal am Rande: „Wahr“ heißt hier „auf Deutsch“: Die Übereinstimmung der Lebensrealität mit einer durch eine Software dargestellten Sachverhaltslage.

Beispiele aus der Praxis

Noch in der „Jungsteinzeit“ des digitalen Zeitalters (ab Mitte der 1990er) habe ich erlebt, dass eine sorgfältig händisch aufgestellte Kostenkalkulation für Abwassergebühren eines Betriebswirtes, gegengeprüft durch ebenso händische „Checks“ der Vorgesetzten und Kollegen, in einem Ratsausschuss angezweifelt wurde. Nach Vertagung wurde dieselbe (!) Kalkulation mit einer Darstellung auf excel kommentarlos angenommen. „Power Point“ ist also auch immer „wahr“.

Ohne Smartphone geht nichts mehr. (Inga Sprünken)

Der funkgesteuerte digitale Radiowecker behauptete dieser Tage, es sei 23.30 Uhr. Tatsächlich ging gerade die Sonne auf. Zum Glück hab ich mich nicht auf den Wecker verlassen. Zwölf Stunden später hat er sich korrigiert. Fehler nicht auffindbar. Ich glaube dem Wecker nicht mehr.

Der mikroprozessor-gesteuerte Außentemperaturfühler des Thermometers behauptet, es sei an der Nordseite des Hauses 19 Grad Celsius – bei intakter Batterie. Es ist Mitte Januar in Deutschland. Fehler nicht auffindbar. Ich glaube ihm nicht mehr und habe ein Quecksilber-Thermometer aufgehängt. Dem glaube ich.

Bei der Komplettsanierung eines kommunalen Schwimmbads wurde ein dem Stand der (digitalen) Technik entsprechendes Schließsystem mit Alarmanlage verbaut. Am Tag X meldet es dem schichtschließenden Betriebsleiter: Alle Außentüren verschlossen, du kannst die Alarmanlage scharf machen und gehen. Er macht es so. Stunden später Zufallsversuch eines gemeindlichen Mitarbeiters: Eine Außentür lässt sich ohne weiteres öffnen – von außen! Fehler nicht auffindbar. Folge: Menschen müssen nun händisch den Verschluss an allen Türen von außen prüfen.

Digital zählt. (Foto: Inga Sprünken)

Im „Wirecard-System“ behauptete die Abrechnungssoftware Milliarden-Umsätze. Menschen (Regierungen) glaubten ihr. Tatsächlich gab es sie nicht.

Digitale Gläubigkeit während der Flutkatastrophe

In der schrecklichen Flutkatastrophe Juli 2021 saßen Fachleute im Krisenstab in Bad Neuenahr/Ahrweiler (und woanders) vor ihren Bildschirmen und digitalen Pegelständen. Das digitale Bild zeigte lange keinen Grund für außerordentliche Entscheidungen und Maßnahmen. Vor Ort flussauf hatten Menschen jedoch tatsächliche Wahrnehmungen. Und teilten sie auch rein sprachlich mit. Diese führte nicht zu anderen Entscheidungen, das Digitale wurde offenbar für verlässlicher gehalten.

In derselben Sache brachen in weiten Teilen RLP und NRW digitale (!) Kommunikationssysteme zusammen. Alle Fachkreise hatten an diese „geglaubt“. Na ja, der Strom war halt weg. 0 und 1 ging nicht mehr. Niemand hatte Vorsorge getroffen, um mit geeigneten Fahrzeugen schlichtweg fachkundige Menschen auf Erkundung schicken zu können.

Manchmal traut man besser den eigenen Sinnen. (Foto: Lindemann)
Manchmal traut man besser den eigenen Sinnen. (Foto: Lindemann)

Bei diesen Beispielen kommen mir Filme wie „War games“ oder „Terminator“ in den Sinn. Ich mache mir Sorgen, ob das „Digitale Zeitalter“ noch Gelegenheit lässt, im Notfall „den Stecker zu ziehen“.

Es würde Sinn machen, den „Aufstieg“ des Digitalen Zeitalters zu relativieren. Ja, alle digitalen Errungenschaften sind hilfreich. Ja, auch ich werde nicht darauf verzichten. Aber wir müssen uns klarmachen: Sie sind tatsächlich nur nützliche „Maschinen“ oder „Werkzeuge“ – sonst nichts! Genauso wie Hammer, Meißel, Schraubendreher, Messgeräte, Kräne, Lokomotiven, Autos usw.

Sie dienen uns und nicht wir ihnen!

Es bleibt dabei: Die Wahrnehmung durch unsere Sinne (Hören, Sehen, Fühlen, Schmecken, Tasten) ist am Ende bei der Einschätzung der Realität durch nichts zu ersetzen. Und sie mag auch Fehler bergen. Aber besser erst mal menschliche Wahrnehmung als diese ersetzt durch „digitalen Glauben“.

Ihr Ambrosius Unbeugsam

 

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